Erinnerungen der roten Vera

Arbeiterkind, Kommunist:innen-Tochter, Büttenrednerin, Stadträtin: Vera Hemm hat ein bewegtes Leben hinter sich und steckt mit fast 90 Jahren immer noch voller Tatendrang. Das Porträt einer Rastlosen.
Das Bild zeigt die Konstanzerin Vera Hemm an einem Tisch
Auch mit 87 noch voller Tatendrang: Die Konstanzerin Vera Hemm. Bild: Michael Buchmüller

Als Vera Hemm noch ins Ellenrieder-Gymnasium ging, stand unter ihren Deutsch-Aufsätzen oft „unbeholfen“. Jene höhere Töchterschule, die man im Volksmund nur abschätzig den „Affenkasten“ nannte, weil hier hauptsächlich die Vornehmen, die Lehrer, die Geschäftsleute, die Buchhändler ihre Töchter hinschickten. „Da waren kaum Arbeiterkinder in der Klasse.“ Eben solche wie sie, Tochter eines Schneiders und einer Näherin. Trotzdem machte sie genau dort 1955 ihr Abitur.

Heute, mit 87 Jahren, schreibt sie gerade an einer Dokumentation für das Stadtarchiv. Nach „Im Zeichen der roten Nelke“, einer fünfhundert Seiten starken Biografie über ihre Mutter und ihre Kindheit, nach „Brot und Rosen“, in dem all ihre Sketche, Lieder und Kabarett-Texte vereinigt sind, sitzt sie nun an ihren Erinnerungen über die Zeit als Stadträtin der Linken von 2005 bis 2014. „Meine ganze Wohnung steht noch voll mit den Gemeinderat-Ordnern. Im Moment bin ich im Jahr 2006 angekommen.“

<!– Paywall –>

Das Schreiben hilft gegen das Vergessen

Die Erinnerungen verblassen, da sei es gut, das alles nachzulesen und aufzuschreiben. Der Elan sei ungebrochen, sie erzähle eben so gerne, gerade auch von früher. Zum Beispiel über die Zeit in der Fischenzstraße, wo sie mit ihren Eltern und einer Großtante Ende der Dreißigerjahre einzog, direkt an der Brücke, die heute über die breite Bundesstraße führt. „Früher waren da nur Wiesen, Äcker, Bauernhöfe und Ställe. Es war wirklich ein Paradies.“

Vor und während des Zweiten Weltkrieges, als Nahrungsmittel knapp waren, seien die Konstanzer aus der Stadt gekommen und hätten geschaut, ob sie einen Kohlkopf oder ein paar Kartoffeln im Tausch erstehen konnten. „Die Paradiesler mussten eigentlich ihr Obst und Gemüse abgeben.“ Aber das nahm natürlich niemand so ganz genau. Die Milch, so erinnert sie sich, wurde auch zu einer Sammelstelle neben dem Gasthof „Schweizer Grenze“ gebracht. Da habe sie oft eine Freundin begleitet, die von einem Bauernhof stammte. „Und auf dem Rückweg habe ich dann den Rest aus der Milchkanne getrunken.“

Schmeckte herrlich und war viel besser als die Verdünnte, die man kaufen konnte!

Das Bild zeigt die Konstanzerin Vera Hemm in einem roten Pullover
Auch mit 87 noch voller Tatendrang: Die Konstanzerin Vera Hemm. Bild: Michael Buchmüller

„Früher waren da nur Wiesen, Äcker, Bauernhöfe und Ställe. Es war wirklich ein Paradies.“

Vera Hemm, über Konstanz in ihrer Jugendzeit

Bei einer anderen Freundin habe es immer ein Marmeladebrot mit Butter gegeben. Und ihre Augen leuchten noch heute, wenn sie sich daran erinnert. „Es war keine einfache Zeit, aber trotzdem schön.“

Ihr Vater, der Schneidermeister Johann Hemm, flickte so manche Hose und nähte aus Stoffen, die man ihm brachte, Anzüge und Kostüme. Bezahlt wurde er in Naturalien. Selbst aus des Vaters Heimatort Hayingen kam immer wieder eine Holzkiste mit der Post, in der mit Mehl gefüllte Säckchen waren – und darin „eingebettet“ Eier. Zurück schickte der Vater dann die reparierte Kundenbekleidung. „Diese Kiste ging viele Male hin und her. So hat man sich durchg´schlage damals.“ Ja, und wenn man mit den Paradieslern gut konnte, „dann musste man nicht mal katholisch sein. Nur anständig.“

„Wenn man mit den Paradieslern gut konnte, dann musste man nicht mal katholisch sein. Nur anständig.“

Vera Hemm

Sie, ein ungetauftes Heidenkind, Tochter zweier Kommunist:innen. Was die Eltern während der Nazizeit streng geheim hielten. Schließlich wollten sie sich und ihre kleine Familie nicht gefährden. Nur einmal sei die Mutter, die Näherin Johanna Hemm, bei der Bekleidungsfabrik Strähl arbeitend, „negativ“ aufgefallen, weil sie wohl vor dem Firmentor eine Rede gehalten hatte. Dafür kam sie 14 Tage in Haft.

Was der Inhalt war? „Darüber hat sie nie gesprochen. Vielleicht so etwas wie: Wer Hindenburg wählte, wählte Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Da sind schon Menschen für weniger ins Konzentrationslager gekommen.  

Die Mutter kam in der Nazizeit mal 14 Tage in Haft. Warum, hat sie nie erzählt

Vera wäre gerne zum Bund deutscher Mädel (BDM) gegangen, die Freundinnen waren ja auch dort. Aber das ließen die Eltern nicht zu. So überlebte die Familie das Dritte Reich. Die zehnjährige Vera wurde nach Kriegsende von einer Tante in St. Gallen aufgenommen. Für mehrere Monate, länger als geplant. Zum Aufpäppeln. Dort ging sie sogar zur Schule. „Mir ging es gut, ich hatte kein Heimweh.“

1946 arbeitete die Mutter als Sekretärin für die Gewerkschaft „Textil-Bekleidung“, erst noch ehren- dann hauptamtlich. Für die Kommunistische Partei Deutschland (KPD) zog sie in den Stadtrat ein. „Die Kommunisten hatten ja eine weiße Weste und waren am wenigstens vorbelastet.“ Bis 1954 war sie da aktiv.

Das Bild zeigt Vera Hemm als Büttenrednerin in der Konstanzer Fasnacht.
Fühlt sich auch in der Bütt sehr wohl: Die Konstanzerin Vera Hemm. Bild: Archiv

Versle machen und als Mäschgerle an der Fasnacht unterwegs

Von der Mutter habe sie mitbekommen, dass man den Arbeitgebern etwas entgegensetzen müsse. „Und meine Mutter hat auch gerne Versle gemacht.“ War als Mäschgerle bei der Fasnacht unterwegs und stand auch in der Bütt. Etwas, was die Tochter dann, auf ihre eigene Weise, weiterführte.

Als Mitglied der Gewerkschaft „Chemie, Papier, Keramik“ engagierte sie sich im Betriebsrat bei Byk Gulden, wo sie schnell den Spitznamen „Die rote Vera“ bekam. Später stand sie dann selbst auf der Bühne, wofür sie in Konstanz vielleicht am bekanntesten ist.

Und das kam so: Im DGB Konstanz gab es einen „Kreisfrauenausschuss“, und dieser wollte den 8. März, den Internationalen Frauentag, neu beleben. Durch eine kulturelle Veranstaltung. Also wälzte man Bücher und suchte Texte bei Brecht, Tucholsky oder Kästner, natürlich auch bei Schriftstellerinnen, die etwas zum Thema Frauen oder Frieden zu sagen hatten. Oder man suchte Songs, die Vera Hemm anfing umzuschreiben und dann auf dem Klavier begleitete.

Was sie auf die Bühne trieb

Dazu kamen Sketche, alle von ihr verfasst. „Danach wurde auswendig gelernt, was eine ziemliche Arbeit war.“ So dass die Gruppe von circa dreißig Teilnehmerinnen bald auf etwa zehn feste „Ensemblemitglieder“ schrumpfte, aber auf diesem Stand stabil blieb. Das Eingeübte kam dann in Singen oder in Konstanz im St.-Johann-Saal zur Aufführung, zunächst nur vor weiblichem Publikum, bald aber offen für alle.

1985 zum Beispiel bearbeitete Vera Hemm einen Südkurier-Artikel. Darin ging es um eine Kreistagssitzung, in der es um die „Schaffung einer Gleichstellungsstelle für Frauenfragen im Kreis“ gehen sollte. Der Artikel trug die Überschrift „Viel Gelächter zum Thema Frau“ und berichtete davon, wie die Männer den Frauen „unflätig ins Wort fielen“ oder deutliches Desinteresse an der Diskussion zeigten.

Eine Steilvorlage für einen Sketch, in dem sie gleich zu Beginn die „Männer“ aus der Operette von Franz Lehár „Weiber, Weiber, Weiber!“ oder später zur Kinderliedmelodie „Es plappern die Frauen wie ein rauschender Bach!“ singen ließ und damit alle die Klischees und Vorteile der Männerwelt entlarvte. Als es 1989 um ein Frauenhaus ging, verpasste sie der Melodie von „Marmor, Stein und Eisen bricht“ einen neuen Text und machte so auf die Not der Frauen aufmerksam, denen häusliche Gewalt widerfuhr.

Durch sie kamen Frauen- und Gewerkschaftsthemen auch bei konservativen Menschen an

Alles nachzulesen im 2022 erschienen Sammelband „Brot und Rosen“, der Titel der Hymne des Frauentags! Die Sache der Frauen war ihre Sache geworden. In den 80er Jahren nannten sie sich „DGB-Frauen-Kulturgruppe Menschen – zufällig weiblich“ nach einer Gedichtzeile von Iris Wewer. Dazu dichtete Ingrid Hucke-Tschalpa: „Zufällig weiblich, das DGB-Kabarett;/ Seit 20 Jahren machen wir Programm/ Beute gab`s reichlich, von Politik bis zum Bett./ Und Loreley kämmt sich mit goldnem Kamm.“

Der Saal war immer voll, am Eingang standen Info-Tische, auf denen Material zur Gewerkschaftsarbeit und zu Frauenthemen auslag. „Und wir haben jedes Mal eine gute Presse bekommen!“ So wurde die rote Vera über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.

Klare Kante im Gemeinderat

Später kandidierte sie, wie ihre Mutter, für den Gemeinderat. In den 60er Jahren auf der Liste der „Deutsche-Friedens-Union“ (DFU), sie wurde aber nicht gewählt. Erst 2005 gelang ihr das. Als einzige Abgeordnete der Linken und als Nachfolgerin von Dr. Michael Venedey.

Unterstützt von einer teilweise chaotischen, aber hilfreichen Gruppe, die ihr zugearbeitet hat. „Mir ging es gut im Gemeinderat, obwohl ich ja die mit einem deutlich anderen politischen Standpunkt war!“ Für den sie stets klare Kante zeigte.

Vera Hemm mit ihrem aktuellen Buch „Brot & Rosen“. Bild: Archiv

Wenn das ihre alte Deutschlehrerin wüsste …

Heute lebt sie in der Gartenstraße, der Verstand hellwach, immer noch mit großer Begeisterung erzählend, Hüfte und Knie etwas steif, der Rollator ihr treuer Begleiter. In die Stadt geht es nicht mehr zu Fuß. Inzwischen nehme sie den Bus, rein und raus.

Das war früher anders. Wie so vieles, an das sie sich erinnert und das sie aufgeschrieben hat. Und noch immer in den PC tippt. Schon längst frei von jeder „Unbeholfenheit“, die ihr die Deutschlehrerin am Ellenrieder noch attestiert hatte.