Konstanz, im Juli 2035. Fahrräder rauschen den Hang hinab zum Hörnle, ein Bus schnurrt auf seinen elektrischen Samtpfoten nebenher. Da wo einst ein Parkplatz war, ist jetzt der Beginn einer grünen und schattigen Naturerlebnisfläche für die ganze Stadt. Holzliegen, Entdeckungspfade, Spielplätze. Ein paar Schritte weiter Richtung See schließt das Strandbad an. Und direkt vor einem eröffnet sich das Rund des Bodenseestadions. Gitter, Gestrüpp, Gemäuer, alles, was vor Jahren noch den Blick verstellte, ist abgeräumt. Stattdessen Platz. Viel Platz.
Was alles sein könnte
Darauf: Beach-Volleyballplätze, eine Kletterwand, Fußballtore, Basketballkörbe, eine im Schatten liegende Fläche für Parcours, etwas versteckt in der Nordkurve eine Bahn für Skater:innen und Rollerfahrer:innen. Und das alles zugänglich für jede:n. Jederzeit. Dazwischen immer wieder Liegen. Viel Grün. Leichter Seewind. Ein Biergarten in den oberen Rängen, von dem man auf den See genauso schauen kann wie auf die Waldbühne, die regelmäßig bespielt wird. Auch an diesem Abend: Billie Eilish macht auf ihrer Abschiedstournee Station am Bodensee.
Schnitt.
Konstanz, im Juli 2023. Nichts von dieser Vision ist zu spüren an diesem verloren wirkenden Ort namens Bodenseestadion. Wespen haben sich an einem der betongrauen Kassenhäuschen ein Nest gebaut, Spinnweben hängen in der anderen Ecke. Die Rollläden sind unten und so wie sie aussehen, waren sie schon lange nicht mehr oben. Dahinter, im Stadion selbst, bröckeln die Ränge, im Rasen klaffen braune Lücken, das Tribünendach ist undicht, die Umkleidekabinen atmen eher das Eröffnungsjahr 1935 als die Gegenwart 2023.
Frank Schädler steht in einer grauen Hose, weißen Turnschuhen und einem dunkelblau-weißen Hemd dort, wo man den Anstoßpunkt des Fußballfeldes vermuten könnte. Er blickt sich um und sagt dann: „Es ist einfach viel zu lange nicht in diesen Ort investiert worden.“ Man kann das darunter liegende Seufzen sehr gut hören. Schädler ist Leiter des Konstanzer Amts für Sport und Bildung und kaum einer in der Stadt hat sich in den vergangenen Jahren so intensiv mit dem Bodenseestadion beschäftigt wie er.
Die letzte grundlegende Sanierung ist 32 Jahre her
Das große Problem: Als Wettkampfarena ist das Stadion gnadenlos überholt und für Kulturveranstaltungen fehlt eigentlich die angemessene Infrastruktur. 1991 ist das Stadion das letzte Mal grundlegend saniert worden, danach folgten nur noch kosmetische Korrekturen. Das Stadion verfiel quasi vor den Augen der Stadt.
Einmal im Jahr finden darin zwar Festivals wie Rock am See, Gute Zeit oder das Campus Festival statt. Ansonsten gleicht das Stadion in bester Lage aber meistens einer Brache. Einige Konstanzer Vereine und Schulen nutzen es als Trainingsfläche und die American Footballer der Konstanz Pirates tragen hier ihre Heimspiele aus. „Eigentlich zu wenig für ein Stadion dieser Größe und mit diesem Potenzial“, findet Frank Schädler. Er wollte mehr.
Immer wieder hat der Sportamtsleiter versucht, das Thema in der Politik zu platzieren. Immer wieder ist er abgeblitzt. Man wolle sich keine Zukunftsoptionen verbauen, hieß es dann oft aus Verwaltung und Gemeinderat. Diese Zukunftsoptionen zu entwickeln wurde dann aber vergessen, weil die Zukunft ja immer so bequem weit weg war. Am Ende wurde dann meistens gar nichts entschieden.
Erst die Sperrung öffnete vielen Politiker:innen die Augen
Das änderte sich erst im Mai dieses Jahres. Als die Stadt das Stadion nach dem Campus Festival wegen gravierender Mängel für große Publikumsveranstaltungen sperren musste. Das Festival konnte schon in diesem Jahr nur noch mit einer Sondergenehmigung stattfinden, die bereits im September 2022 erstellte Mängelliste der so genannten Brandverhütungsschau war lang. Keine Flucht- und Rettungswegpläne, die Ausgänge zu wenig breit, unklare Lage bei der Löschwasserversorgung im Brandfall, keine Brandschutzordnung, zu wenig Feuerlöscher, keine Sprachalarmanlage für den Notfall. Für einen Veranstaltungsort war das ein Desaster.
Nicht alles davon muss sofort behoben werden, aber die Sicherheitsinspekteur:innen haben auch klar gemacht: Wenn nicht mindestens die allernotwendigsten Dinge geändert werden, dann wird 2024 kein Campus Festival im Bodenseestadion stattfinden können. Das war der Moment, in dem die Politik plötzlich sehr schnell reagierte. Binnen weniger Wochen wurden 700.000 Euro locker gemacht, damit das Stadion im nächsten Mai zumindest die grundlegenden Sicherheitsanforderungen erfüllt. Und das Campus Festival auch nächstes Jahr über die Bühne gehen kann.
Das Problem: Oft waren andere Dinge immer noch wichtiger
Richtig zufrieden ist Frank Schädler aber trotzdem nicht: „Es ist gut, dass wir das Stadion jetzt sicherheitsmäßig ertüchtigen, aber mir hat die Diskussion über die mittelfristige Nutzung des Stadions gefehlt“, sagt er. Auf eine weitergehende Perspektive habe sich die Politik wieder nicht verständigt, klagt der Sportamtsleiter. Er hat jetzt ein bisschen Sorge, dass es wieder läuft wie in früheren Jahren.
Zum Beispiel 2017, als erst die CDU eine Sanierung des Stadions forderte und die FDP nachlegte und anregte einen Ideen-Wettbewerb für das Bodenseestadion zu starten. Oder 2022, als es in den Sparrunden zum neuen städtischen Haushalt darum ging, ob man das Stadion aus Kostengründen nicht komplett stilllegen sollte. Fraktionsübergreifend wurde dieser Vorschlag des Stadtsportverbands vom Tisch gewischt. Das Stadion? Zu wichtig, um es aufzugeben.
Das ist manchmal das Verrückte an Politik: Selbst wenn alle dafür sind, bewegt sich manchmal gar nichts. Woran das liegt? Frank Schädler zuckt mit den Schultern: „Es gab immer den Wunsch, das Stadion in der Gesamtplanung des Gebiets am Horn weiterzuentwickeln, deshalb kamen wir da nicht voran“, erinnert sich Schädler. Dazu kommt: Am Ende war irgendwas anderes immer noch wichtiger als das Stadion. Das war ja noch nicht komplett eingestürzt.
Viele frühe Warnungen und ein legendäres YouTube-Video
Dabei hat es an frühen Warnungen nie gemangelt: Schon Frank Schädlers Vorgänger, Georg Geiger, sagte 2012: „Irgendwann ist mal Schluss mit der Improvisiererei. Wir brauchen jetzt eine richtige Lösung für das Stadion.“ Dieter Bös, Rock-am-See-Erfinder und Immer-noch-Veranstalter in der Stadt, hat oft über den Zustand des Stadions geklagt und am Ende im Zweifel dann doch aus der Kasse seines Unternehmens die notwendigen Anpassungen gezahlt. Eine kurzfristige Absage aus Sicherheitsgründen wäre noch teurer geworden für ihn.
Und dann ist da noch das legendäre Video des Sängers Trent Reznor. Seine Band, die Nine Inch Nails, war Headliner 2007 bei Rock am See. Während ihres Auftritts war zweimal der Strom ausgefallen, die lichtgewaltige Show stürzte ab. Im Video wütet Reznor über den „inkompetenten Veranstalter“ und die schrecklichen Festivals in Europa. Die Bühne hatte er da zuvor am Ende seines Gigs mit seinen Bandkollegen schon auseinandergenommen. Auch das kann man auf dem Video in atemberaubend schlechter Auflösung sehen.
Frank Schädler kennt all diese Geschichten auch. Aber er ist nicht der Typ für zu viel Vergangenheitsbewältigung. Er will lieber die Zukunft gestalten. Und bei diesem Gedanken kehrt die Zuversicht in sein Gesicht zurück: „Wir sind jetzt so nah dran, wie noch nie, das Bodenseestadion zu einem attraktiven Ort für die ganze Stadt umzugestalten.“ Bis zum Sommer 2024 will er ein neues Konzept dafür erarbeiten. Erste Aufgabe dabei: die verschiedenen Interessengruppen einbinden. Jede davon hat schließlich ganz eigene Vorstellungen davon, was aus dem Stadion werden soll.
Die Wünsche des Sports, die Hoffnungen der Kultur
Der Stadtsportverband (SSV) zum Beispiel. Dort könnte man sich zwar vorstellen, sich vom Bodenseestadion als Wettkampfstätte zu trennen, aber nur dann, wenn gleichzeitig die benötigten Flächen für Konstanzer Sportvereine an anderer Stelle geschaffen werden. In einer Stellungnahme an den Gemeinderat nennt SSV-Vorsitzender Martin Müller das Sportzentrum Wollmatingen neben dem Schwaketenbad als einen möglichen Ort dafür. Dort bräuchte es dann aber weitere Investitionen, „um vollwertigen Ersatz“ zu schaffen, so Müller.
Das Kulturamt wünscht sich neben großen Festivals auch kleinere Veranstaltungsformate für bis zu 1.000 Zuschauer:innen im Stadion. Insgesamt, so schreibt Sarah Müssig, wäre die Ertüchtigung des Bodenseestadions für eine dauerhafte kulturelle Nutzung „ein starkes Signal für die Ausrichtung der Stadtentwicklung im kulturellen Bereich.“
Strom im Stadion? „Nahezu nicht vorhanden“, schreibt der Campus Festival-Veranstalter
Xhavit Hyseni, Veranstalter des Campus Festival und Geschäftsführer bei Kokon Entertainment, fordert eine grundlegende Sanierung des Stadions, damit „Veranstaltungen in klein und groß eine Perspektive für das Jahr 2024 sowie darüber hinaus erhalten“. Besondere Mängel sieht er vor allem in der Stromversorgung des Stadions. In der aktuellen Lage seien acht bis zehn Stromgeneratoren notwendig, um ein Festival störungsfrei über die Bühne zu bringen. Besser wäre es, so Hyseni, die Feststromversorgung des Stadions deutlich zu erhöhen.
Und dann ist da noch der Naturschutz. Das Gebiet rund um das Hörnle gilt als schützenswert. Nördlich grenzt der Lorettowald an, der auch Waldschutzgebiet ist. Westlich finden sich Uferschutzzonen mit seltenen Pflanzen und Vögelruhezonen im Winter. Südlich angrenzend zum Hörnle Freibad ist ein Vogelschutzgebiet. Trotzdem sagt Jarid Zimmermann, Geschäftsführer des BUND Konstanz, erstmal: „Die geplante Öffnung des Stadions in Richtung Hörnle Parkplatz allein dürfte nicht weiter kritisch sein.“ Das „aber“ schwingt da schon mit.
Was der Naturschutz zu den Plänen sagt
Zentrale Frage sei, so Zimmermann weiter, vor allem, wie intensiv die neue Nutzung wäre: „Verteilen sich die Besucher, die derzeit am Hörnle sind, auf eine größere Fläche oder werden besonders viele Menschen ans Hörnle gelockt? Sollte das Stadion zusätzlich in andere Richtungen geöffnet werden, wäre das kritisch.“ Deshalb rät er dazu, bei der weiteren Planung einen erhöhten „Nutzungsdruck insbesondere auf die Uferzonen und eine weitere Zerschneidung und Freizeitnutzung des Waldes durch Trittpfade oder Fahrradwege zu vermeiden“.
Wie also mit all den Wünschen umgehen? Frank Schädler hat seine ganz eigene Vision vom Bodenseestadion 2035 entwickelt. „Man sollte das Stadion zum einen öffnen für jegliche Form von Freizeitsport und zum anderen eine Art Waldbühne einrichten mit einer festen Grundausstattung“, sagt der Sportamtsleiter mit Blick auf die Südkurve des Stadions.
Die große Lösung wäre, die komplette Südtribüne abzutragen und das Stadion Richtung Parkplatz zu öffnen. „Eigentlich müsste man die Parkplatzfrage direkt mitklären, es wurde ja schon häufiger diskutiert, wie sinnvoll der an dieser Stelle ist“, findet der Sportamtsleiter. Die Gesamtanlage inklusive Parkplatzfläche zu planen, „das wäre eine echte Chance, das Bodenseestadion langfristig als Freizeitperle für die Stadt zu entwickeln.“
Campen, wo sonst die Stars abhängen
Die Ideen dafür sind längst in seinem Kopf: Freizeiterlebnisflächen dort, wo heute Autos stehen, ein gemeinsamer Versorgungstrakt mit Toiletten, Duschen, Umkleidekabinen zwischen Stadion und Strandbad, der von beiden Seiten genutzt werden kann, und ein Jugendzeltplatz im nördlichen Areal. Es wäre der Zeltplatz mit dem vermutlich intensivsten Promiduft weit und breit: Dort warten bei Festivals Bands wie Kraftklub, Die Toten Hosen oder Muse im Backstagebereich auf ihren Auftritt.
Aber Schädler weiß, dass solche großen Lösungen in der Politik derzeit schwer durchzusetzen sind. Denn: Große Lösungen bedeuten große Investitionen. In der aktuell angespannten Haushaltslage der Stadt haben es kostspielige Visionen schwer. Deshalb setzt der Sportamtsleiter auf die Politik der kleinen Schritte. Eine solche kleine Lösung sieht vor, dass zumindest in einem begrenzten Bereich der Südkurve ein ebenerdiger Zugang geschaffen wird. Und all die anderen Dinge? „Wir müssen in Stufen denken, sonst kommen wir nicht weiter“, ist Schädler überzeugt.
Der Fahrplan für die nächsten Jahre
Und so wird nun das Allernotwendigste bis zum nächsten Mai gemacht, gleichzeitig will das Sportamt gemeinsam mit Veranstalter:innen und Nutzer:innen ein neues Betriebskonzept für das Stadion erstellen, um klarer zu fassen, wie die weitere Entwicklung aussehen könnte. Das soll im Sommer 2024 im Gemeinderat diskutiert werden. Weitere Sanierungsmaßnahmen könnten dann mit dem Doppelhaushalt 2025/26 beschlossen werden, hofft Frank Schädler. Bis die große Vision vom neuen Bodenseestadion umgesetzt sei, könne es zehn Jahre dauern.
Ob ihm das alles nicht manchmal viel zu langsam gehe? Frank Schädler hält kurz inne, holt tief Luft und sagt dann: „Ja, klar. Aber manche Prozesse brauchen einfach Zeit. Und dafür, dass wir vor einem Jahr kurz davor waren, das Stadion komplett aufzugeben, sind wir jetzt schon ziemlich weit.“
Übrigens: 2035 wird das Stadion 100 Jahre alt. Nicht die schlechteste Gelegenheit, um aus einem Ort der Vergangenheit einen Ort der Zukunft zu machen.
Die Freie Grüne Liste (FGL) veranstaltet am Mittwoch, 2. August, eine Diskussion zur Zukunft des Bodenseestadions. «Wir wollen die verschiedenen Pläne, Überlegungen, Ideen mit euch diskutieren und unterschiedlichen Fachleuten unsere Fragen stellen», schreibt die FGL in einer Veranstaltungsankündigung. Die Diskussion findet im Bodenseestadion statt. Beginn ist um 19 Uhr. Es diskutieren an diesem Abend: Dieter Bös und Xhavit Hyseni vom Veranstalter KOKON Entertaintment, Patrick Glatt vom Sportamt der Stadt Konstanz und Martin Müller vom Stadtsportverband. Als FGL-Gemeinderätin wird Dorothee Jacobs Krahnen mitdiskutieren. Sie ist Mitglied des Sportausschuss des Gemeinderats.
Mehr Macht dem Publikum?
Du willst mehr karla?
Werde jetzt Mitglied auf Steady und gestalte mit uns neuen Lokaljournalismus für Konstanz.
Oder unterstütze uns mit einer Spende über Paypal.