Leute, die am See aufgewachsen sind, hatten in den vergangenen Jahren ein Ziel: Raus aus der Einöde, auf nach Berlin. Endlich cool werden und über Baden-Württemberg ablästern. Insbesondere über die, die die Heimat nicht verlassen wollen.
Grundsätzlich war mir das immer zu „cool“. Ich bin die Art Hipster, die auf jeden Hype verzichtet. Ich schaue angesagte Serien erst dann, wenn sie nicht mehr angesagt sind. Ich empfinde mein iPhone-loses Dasein als adäquates Mittel, um gegen die Gesellschaft zu rebellieren. Andererseits, dachte ich, wäre es ganz gut, mal etwas anderes zu sehen, stickigere Luft zu atmen und auf linksversiffte Gleichgesinnte zu treffen, die weitaus mehr sind als der klassische Konstanzer BWL-Justus, 24 und Sohn von Beruf.
So richtig vor hatte ich es aber selbst dann nicht, als ich plötzlich einen Job in Berlin hatte. Im Gegenteil: Jede:r, der:die die aktuelle Wohnsituation in Berlin kennt, weiß, dass Anstrengung und hohes Engagement notwendig sind, um eine Bleibe zu finden. Also verzichtete ich auf beides. Und mit dieser Einstellung kam es dann, dass ich meine Wohnung in der Bahn fand, da die Person, die mich nach einer Auskunft fragte, auch zufällig eine Wohnung zu vermieten hatte. So wurden meine Pläne, meinen Umzug zu sabotieren, sabotiert.
Mit Seeblick: Die feinen Unterschiede
Berlin ist ganz anders als Konstanz. Die Leute sind unfreundlich (aber wenigstens ehrlich), die Stadt ist nach Standards, die es noch gar nicht gibt, divers und nirgendwo gibt es Schweizer, die einen Ausfuhrschein wollen. Zudem stimmt es, Berlin ist wacher: Im Fitnessstudio empfahl mir ein Trainer, ein Armband statt einer Mitgliedskarte für mein Abo zu wählen. Das sei für Frauen besser – nicht etwa, weil er Sexist sei, sondern weil er wisse, dass Frauen öfter Leggings tragen und eine Mitgliedskarte während des Trainings schwieriger zu verstauen sei. Und ich dachte dann: „Krass, so woke sind nicht einmal die Mehrheit der Professor:innen im schönen Konschtanz“.
Im Tinderversum
Berlin und Identitätskrise? Kein Problem. Anders als in Konstanz kann man sich so viele Identitäten schaffen, wie man möchte, oder einfach unangepasst man selbst sein. Es ist okay, wenn man mit Ende zwanzig, Anfang dreißig, Ende vierzig einfach noch nicht weiß, was man will. Es ist okay, in Berlin Single zu sein, kein Auto zu haben und die Dinge anders machen zu wollen.
Und so lässt sich vermutlich auch die Auswanderung vom See in die Hauptstadt erklären: Es ist nicht die Stadt, es ist nicht Berlin, es ist die limitierte Auffassung des Lebens in anderen Bundesländern, die diesen Strom auslöst. Gerade, wenn man sich nicht mit dem Lifestyle der weißen Mittel- und Oberschicht identifiziert, nicht mithalten kann oder will, genau dann zieht man nach Berlin. Kurzum: Wenn Konstanz und Co. nicht so riesengroße Jürgens wären, dann hätten die Leute Bock hier zu sein. Das ist tatsächlich schade!
Berlin, warum bist du nicht ein bisschen Konstanz?
Mein Fazit: Berlin ist wahnsinnig schnell, man kann sich nonstop beschäftigen, es ist immer was los. Es gibt in Berlin Angry Chicken. Auf dieses Restaurant möchte ich nie wieder verzichten. Meanwhile seufze ich dann doch etwas, weil ich meine grünen Routen zum Joggen zuhause vermisse und auch das Bodensee-Zeitgefühl – so, als würde man ewig leben, weil man spüren kann, wie das Gras wächst.
Man muss sich aber nicht entscheiden: Es spricht nichts dagegen, als Bodensee-Heimscheißer gerade keinen Bock mehr auf den knallharten Berlin-Winter zu haben. Es spricht auch nichts dagegen, im Sommer für ein paar Monate zurückzukehren. Settling Down ist mindestens so veraltet wie Heiraten und Kinderkriegen. Weg mit dem Stereotyp des „Erwachsenen“, denn in Wahrheit weinen dann doch alle, weil sie trotz aller Maßstäbe unzufrieden sind. Da gestehe ich mir lieber ein, ein Gesellschaftsfreak zu sein, der keine Ahnung hat, wo er jetzt wirklich wohnt – das ganze bei einer Riesenportion Sexy Chicken mit Chili-Mayo.
Mein Tipp: Traut euch raus aus Konstanz! Lebt mal woanders. Wenn ihr keinen Bock mehr habt, kommt zurück (und tut es dann nochmal). Es gibt kein Entweder-oder, manchmal muss man es sich einfach so zurechtlegen, wie es einem passt. Sollte in Konstanz ein Angry Chicken Restaurant aufmachen, kann ich vielleicht auch einfach für immer auf Berlin verzichten.
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