Noch nie hat sich eine Gesellschaft so krass für Diversität interessiert, wie in den letzten Jahren. Spätestens seit 2020 stellt sich gefühlt jedes Unternehmen, jede Stadtverwaltung, jede Hochschule darauf ein, diverser zu werden, um sich dem neuen Zeitgeist anzupassen. Die Leute wollen wissen, wie und wo sie das Gendersternchen verwenden sollen, wie rassistisch sie wirklich sind (am besten in Prozent) und wie sie sich äußern können, ohne von politisierten Teenagern in sozialen Medien angepöbelt zu werden. Andere sehen Diversity als Ansichtssache, argumentieren aus dem Bauch heraus und halten das ganze Thema eher für optional. Diversity – ein Generationenkonflikt?
Mein Senf dazu: Der Fehler früherer vorhergehenden Generationen liegt vor allem darin, dass sie sich den Moonwalk gegenseitig lieber vorwärts als rückwärts beigebracht hätten. Vorwärts wäre besser gewesen, denn dann hätten sie gemerkt, dass marginalisierte Communities nicht erst gestern auf das Thema gekommen sind. Was sich aber geändert hat, nicht zuletzt durch die Mainstreamisierung politischer Bewegungen, ist, dass sich Gesellschaften gezwungen sehen zuzuhören. Das ist einerseits toll, andererseits ein Trugschluss, denn sie tun es nicht unbedingt, um sich zu diversifizieren, sondern vor allem, weil der Druck immens gestiegen ist.
Diversity ist inzwischen auch Gruppenzwang und in manchen Kontexten einfach eine Vorgabe à la „ohne Coaching keine Finanzierung“. Meine Frage: How dare you?
Diversity mit Migrationsdefizit
Mir ist dieser Fail zum ersten Mal aufgefallen, als ich bemerkte, dass Diversity-Stellen aller Art oft von weißen Cis-Frauen besetzt sind. Diese Stellen sind in verschiedenen Abteilungen und Institutionen, haben unterschiedliche Schwerpunkte. Die Personen, die diese Stellen besetzen, haben jedoch oft ähnliche Hintergründe, was zu einem Mangel an Vielfalt führen kann. Obwohl die Stellen dazu dienen Antidiskriminierungsmaßnahmen in verschiedenen Kontexten, sowohl strukturell als auch im Alltag, zu etablieren, konzentrieren sich die entsprechenden Perspektiven auf die Bekämpfung von Sexismus, den Gender Pay Gap, der sie selbst betrifft, und die Förderung von LGBTQI+-Themen (meist ohne das Plus).
Oft fehlt ihnen jedoch das Verständnis für Themen wie Rassismus, Polizeigewalt, kulturelle Aneignung, anti-muslimischer Rassismus, struktureller Rassismus, Mikroaggressionen und intersektionale Formen von Diskriminierung und Rassismus, die das Thema noch viel komplexer machen. Der Fokus dieser Stellen scheint jedoch darauf zu liegen, Menschen mit Privilegien und Migrationsdefizit dabei zu helfen, ihre Karriere voranzutreiben und den Anschein des sozialen Fortschritts zu wahren. Ich huste in Richtung Universitätsstraße, aber ich habe kein Corona.
Ein Generationenkonflikt?
Kommen wir noch einmal kurz auf die Generation zurück. Zwischen „Schaffe Schaffe, Häusle baue“ und Tik-Tok-Hashtags scheint es gerade beim Thema Diversity keine Verbindung mehr zwischen den Generationen zu geben. Wir Millenials stehen dazwischen und reißen uns den Arsch auf, weil wir von Boomern großgezogen wurden und eben auch mal ignorant waren. Ja, auch wir oder gerade wir Postmigranten.
Nun genervt von Krisen, noch mehr Krisen und Unsicherheiten, kommen auch noch diese sogenannten „Konflikte“ dazu, die den Keks so richtig schön zerbröseln lassen. Achtung, jetzt kommt’s: Das liegt nicht (nur) an den Generationenunterschieden. Der Crucial Gap liegt vielmehr zwischen Beteiligten und Unbeteiligten, zwischen Betroffenen und Unbetroffenen, zwischen Reflektierten und Unreflektierten.
Das Thema Diversity polarisiert gerade wegen seiner Schnittstelle zu anderen Identitätskategorien. Niemand ist nur Generation XYZ, sondern immer auch dynamisch mit der eigenen Position in der Gesellschaft verwoben.
Fazit: Auch eine Generation muss intersektional betrachtet werden. Oder anders gesagt: Tahir Della ist auch ein Boomer!
Struktureller Menefreghismo
Wenn ich also Gründe nennen soll, warum Babyboomer, Gen X, Millenials und Gen Z in Diversity-Fragen unterschiedlich aufgestellt sind, dann nenne ich nicht den altbekannten Generationenkonflikt, sondern eines meiner absoluten Lieblingswörter: „Menefreghismo“ – das ist italienisch für „I-don’t-give-a-fuck-ism“ und meint, etwas anders als im Englischen, einen Hauch von Apathie in der Kopfnote gemischt mit purer Ignoranz in der Herznote.
Die Basisnote ist eine entsprechende Sozialisation, die Kopf- und Herznote erst richtig zur Geltung bringen. Das stinkt. Und damit meine ich nicht nur Einzelpersonen, ich spreche von einem strukturellen Menefreghismo, der viele Menefreghisti hervorbringt. Die gute Nachricht ist, dass es trotz dieser Herausforderungen auch Fortschritte gibt und die Zahl der Diversity-Coaches wächst, die sich dafür einsetzen, dass diese Themen ernst genommen werden und sich die Gesellschaft wirklich verändert. Vielleicht werden wir uns eines Tages in vielfältigen Räumen wiederfinden – aber bis dahin müssen wir hart daran arbeiten, dass jede Person und jede Stimme gehört und geschätzt wird. Und wer weiß, mit etwas weniger Menefreghismo könnte das sogar Spaß machen!
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