„Hotline says no“, oder: Dürfen Eltern krank werden? 

Kinder brauchen Infekte. Das härtet sie ab. Aber Väter und Mütter brauchen Infekte so sehr wie der Bodensee die Quagga-Muschel – gar nicht. Und sie werden damit allein gelassen. Fast. Ein Selbstversuch mit der Hilfe einer Schweizer Krankenkassen-Hotline.
Die Grafik zeigt ein Papierboot auf dem Bodensee und steht für die Kolumne Yvonne testet
Grafik: Alex Wucherer

Abends zum Ferienstart mit der Familie in der Hafenhalle: Ich nehme lieber doch ein alkoholfreies Weizen. Irgendwie kommt da was. Und ab morgen muss ich für mehrere Tage die Kids allein schaukeln. Doch trotz Sommer-Temperaturen friere ich immer mehr. Das Fieber-Thermometer klettert auf 39 Grad – ich quartiere meinen Sohn aus, mich auf seinem Hochbett ein und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. 

Dass Eltern krank werden, ist schlicht nicht vorgesehen. Kinder sind ständig krank und beim Kinderarzt. In diesen Zeiten dürfen sie allen gehörig auf die Nerven gehen. Denn so etwas wie Bettschwere kommt zumindest bei meinen Kindern erst ab 40 Grad Fieber. Davor wird geheult, geschimpft, gequengelt und gebissen. Was passiert aber, wenn Mama oder Papa ihren Infekt nicht mehr übertünchen können und in die Horizontale fallen? Sie werden zum Trampolin für die Kids. Und in der Schweiz müssen sie da sogar durch, ohne eine:n Mediziner:in zu sehen. Sie haben nur eine blecherne Stimme aus dem Telefon an ihrer Seite. 

Die Hotline ist immer für Dich da!

So ging es auch mir, als ich auf dem Hochbett meines Sohnes bei knapp 40 Grad Fieber lag. „Grüezi“, begrüßte mich die Dame an der Hotline meiner Krankenkasse um 23:55 Uhr. Ich bin mir sicher, dass sich mein Kopf ab 39,7 Grad abgeschaltet hat. So kam mir nicht die Idee, vielleicht mit einer künstlichen Intelligenz zu sprechen. Ich sagte nur: „Ich hab’ Fieber, muss aber die nächsten Tage fit sein.“ Der Rest ist im Nebel verschwunden. Hängen blieb: Paracetamol, Bett, Praxisbesuch unnötig. Trotz meiner Nachfrage wollte die Dame oder KI mir beim Frühstück für meine Kinder am nächsten Morgen nicht helfen. 

Statt zum Arzt, zur Ärztin oder zur Ambulanz zu gehen, hat es sich in der Schweiz seit Jahren etabliert, zuerst die Krankenkassen-Hotline anzurufen. Bei manchen Modellen ist es sogar Pflicht, sich vor jedem geplanten Besuch einer ärztlichen Praxis zu melden. Dann wird abgeklärt, ob das überhaupt nötig ist. Und Überraschung: Meistens ist es das nicht. Die Kasse will Geld sparen und die Patient:innen machen mit, denn so wird es auch für sie billiger. Die Selbstbeteiligung im Krankheitsfall kann in der Schweiz zwar individuell gewählt werden, doch generell müssen Haushalte nirgendwo sonst einen größeren Anteil für Gesundheitskosten aufbringen. In der Konsequenz gehen Menschen in der Schweiz vergleichsweise selten zum Arzt. Rein statistisch hatte im Jahr 2019 jede:r in Deutschland 9,8 persönliche Arztkontakte, in der Schweiz nur 4,3. Und die Hotlines tragen dazu bei, dass das so bleibt. 

Die Botschaft: Kommen Sie nicht in die Praxis!

Selbst als ich mir von meinen Kindern vor einiger Zeit die Hand-Mund-Fuß-Krankheit eingefangen hatte – was bei Erwachsenen äußerst selten ist –, hieß es: „Gehen Sie überallhin, aber zum Arzt müssen sie nicht.“ Damals hatte mich sogar ein richtiger Mediziner zurückgerufen. Wenn auch einer in Rente, der sich nach seiner aktiven Zeit in Österreich nun für meine Krankenkasse verdingt. Er war sehr vertrauenserweckend und hat mit mir über Gott und die Welt geplaudert. Dennoch wollte auch er mich nicht bei meinen Kids unterstützen und etwa Windeln wechseln.   

Bei meiner letzten Grippe war offensichtlich noch nicht mal der Rückruf eines approbierten Profis nötig. Mit Folgen. Ich erinnere mich noch, dass die Hotline-Stimme erst nichts anfangen konnte mit Grippostad, der deutschen Ich-ignoriere-meine-Grippe-Tablette. „Da ist auch Paracetamol drin, das können Sie auch nehmen“, meinte sie nach kurzer Recherche. Also bin ich in den nächsten Tagen Grippostad-gedopt von morgens bis abends mit den Kindern und wildem Reizhusten durch die Gegend gehüpft. Abends stieg die Temperatur dann wieder auf knapp 40. Nach einer Woche habe ich dann doch mal bei meinem Hausarzt angerufen. Dort hieß es: „Lassen Sie das Grippostad weg!“ Damit hatte ich zumindest den Beweis dafür, dass an der Hotline ein fehlbarer Mensch gesessen hatte. Doch ob Mensch oder KI – auf den wichtigsten Aspekt sind alle gut programmiert. Die Praxisassistentin meines Hausarztes gab mir nämlich noch einen Rat mit auf den Weg: „Es wäre sinnlos, herzukommen.“