23.14 Uhr, eine Party in Konstanz. Gerade noch haben wir über den leckeren Käse gesprochen, jetzt geht es um „die unfähigen Politiker“. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Das Thema habe nicht ich aufgebracht. „Wenn deutsche Politiker fachlich was drauf hätten, würde das nicht so ausarten – ich fühle mich entmündigt“, sagt mein Gegenüber und seine Stimme wird lauter. „Ruhig, Blonde“, denke ich mir. Generelle Politiker:innen-Schelte triggert in mir etwas. Das kenne ich seit Küchengesprächen im Studiwohnheim Sonnenbühl. In der Regel komme ich dann mit meinem bewusst naiven Glauben an die Demokratie. Interessiert niemanden, selbst wenn ich schreie.
Also fahre ich seit einiger Zeit eine andere Strategie, eine durchaus ehrliche: Denn ich bin raus aus dem Deutschland-Motz-Spiel. Ich sage meinem so gut wie unbekannten Party-Kollegen: „Das habe ich kaum mitbekommen, weil ich in der Schweiz lebe. In der Schweiz motzt man lieber über die Schweiz.“ Was dann kommt, ist immer ähnlich. Ich höre, die Schweiz mache ja so vieles besser. Lob gibt’s für die direkte Demokratie, neu auch den Schweizer Umgang mit der Corona-Pandemie.
Partygespräche auf der Schweizer Seite
Ich gehe innerlich Punkte durch, die jetzt auf einer Party auf der anderen Seite der Grenze in den Ring geworfen würden – sozusagen im Schweiz-Motz-Spiel. Und ja: Das Spiel beherrschen wir Deutschen in der Schweiz besonders gut. Wer sich fremd fühlt, macht sich vielleicht manches Neue zu eigen, grenzt sich aber auch ab.
Wenn in der nach außen hin an Perfektion grenzenden Schweiz also mal etwas schief läuft, dann zerpflücken es die Arbeitsmigrant:innen aus Deutschland mit Hochgenuss. Wenn die Schweizer Bahn mal fünf Minuten zu spät einrollt. Wenn die Schweizer Post von der Corona-Online-Shopping-Welle komplett überrollt wird. Wenn so manche Volksabstimmung von der Schweizer Stimmbevölkerung fast ignoriert wird, sagen Deutsche: „Wenn ich abstimmen dürfte, würde ich bei jeder Volksabstimmung zur Urne gehen.“
Beim generellen Fehler-Suchspiel mache ich manchmal mit. Asche auf mein Haupt, auch meine Identität braucht Futter. Beim Geld versuche ich mich zusammenzureißen – à la suisse. Schweizer:innen sprechen selten über Geld, erst recht nicht mit flüchtigen Bekannten. Selbst wenn sie im Lago-Aldi jeden Samstag ihre Großeinkäufe erledigen. Dafür reden Deutsche in der Schweiz umso mehr über Preise und Gehälter. Irgendwie logisch: Genau das, was uns direkt oder indirekt über die Grenze getrieben hat, ist Bestandteil fast jedes Small Talks in Exilsolidarität. „Für nen Kaffee im Schweizer Starbucks Zürich drückt man fast zehn Franken ab!“ – „Pampers in der Migros kosten exakt das Doppelte von dem, was sie im DM kosten.“ – „Hast Du von der 4,5-Zimmer-Wohnung für rund fünf Millionen am Zürichberg gehört, bei der man nen Porsche dazu geschenkt bekommt? Der Parkplatz kostet nochmal 80.000 Franken. Jetzt drehen sie durch.“
Ein neuer Glanz
Damit verbunden ist zum Teil echtes Entsetzen. Gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, den Mut, Dinge zu ändern, die wir ändern können, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wenn Du in Luzern wohnst, musst Du Windeln im Schweizer Laden kaufen oder Du musst sie Dir stricken. Ich habe aber noch eine andere These: Über verrückte Hochpreise zu sprechen, festigt die Illusion, dass wir zum Geldadel gehören – nur weil wir in der Schweiz leben. Auch wenn wir nur Kaffee aus der eigenen Thermoskanne trinken.
Gleichzeitig rücken Menschen wieder näher an die alte Heimat heran, wenn sie ihr den Rücken gekehrt haben und nun als Fremde gelten. Die Regel gilt auch für diejenigen, die zwar nicht über den Ozean, aber über den Rhein gesprungen sind. Vieles erhält aus der Außenperspektive für Deutsche einen ganz neuen Glanz. Okay: Nicht die Deutsche Bahn. Aber selbst die kriegt Rückendeckung. Deutschland sei ja auch so viel größer, dagegen sei die Planung des Schweizer Bahnverkehrs ein Klacks, heißt es. Im Länderquartett stechen die Großen eben die Kleinen. Kaum eine Party ohne Witze über die Schweizer U-Bahn (gibt es nicht) und Schweizer Marine (gibt es). Auch ich schaue auf vieles versöhnlicher, seit es mich nicht mehr wirklich betrifft. Doch wenn die exildeutsche Sicht an Verklärung kratzt, geht es mir zu weit und ich denke mir nur: „Dann geh doch nach Berlin!“
Zu meinem Party-Gegenüber in Deutschland sage ich nach seiner Liebeserklärung an die Schweiz: „Dann geh doch nach Zürich!“ Er meint nach einer überraschend langen Pause: „Das überlege ich mir wirklich, ich suche nur noch nach einem Job.“ Sollte er sich in Deutschland fremd fühlen, ist die Chance groß, dass er das auch in der Schweiz tut. Dann findet er dafür aber vielleicht einen Grund, der ihm besser gefällt. Und wenn er wirklich geht, hat Deutschland zwar einen Steuerzahler verloren, aber einen neuen Freund gewonnen.
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