Wie viel Gerechtigkeit steckt im städtischen Haushalt?

Gerechtigkeit ist ein umfassender Begriff. Sie beschreibt das Prinzip, dass jede Person das erhält, was ihr zusteht. Aber wer entscheidet das? Und was bedeutet das für die Verteilung der Gelder aus dem städtischen Haushalt? Ein Essay über Gerechtigkeit und ihre Grenzen.
Die Grafik illustriert die Verteilungsgerechtigkeit im städtischen Haushalt.
Grafik: Alexander Wucherer

Das Prinzip der Gerechtigkeit beeinflusst unsere Gesellschaft und die Werte, in denen wir aufwachsen. Von klein auf lernen wir, dass es gemein ist, jemand anderem etwas wegzunehmen. Wir lernen, dass es unfair ist, wenn jemand zwei Stücke Kuchen bekommt, alle anderen aber nur eins. Gleichzeitig gerät unsere Gesellschaft immer wieder an ihre Grenzen: Was als gerecht gilt und was nicht, kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Es gibt Interpretationsspielraum, der immer wieder für Debatten sorgt. Und so finden sich Themen wie Gendergerechtigkeit, Lohngerechtigkeit und Bildungschancen in politischen Diskussionen wieder.

Der städtische Haushalt ist ein gutes Beispiel, um diese Grenzen aufzuzeigen. Einer Stadt oder Kommune steht für die Jahresplanung ein gewisser Geldbetrag zur Verfügung. Diesen Betrag gilt es, gerecht zu verteilen. Das entscheidet in letzter Instanz der Gemeinderat. Es gibt also kein Gesetz, das besagt, wer wie viel bekommt. 

Es ist die Entscheidung von Menschen wie du und ich, die ein Gefühl für Gerechtigkeit haben. Aber, wie schon erwähnt, ist genau das subjektiv. Gehen wir davon aus, dass unsere Gemeinderäte das Wohl der Stadt und der Bürger:innen im Sinn haben, so unterliegen wir trotzdem ihrer Wahrnehmung, ihren Werten und Entscheidungen. In finanziellen Zuwendungen zeigt sich, was der Politik wichtig ist und als wertvoll erachtet wird. 

„Demokratische Werthaltungen und menschenrechtliche Normen bilden das Fundament für die politische Bildung. Damit ist sie alles andere als neutral,“ schreibt die Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Dieses Zitat untermalt die Ambivalenz, dass auch ein Gemeinderat sich an Gesetze halten muss, aber jedes Mitglied eine persönliche Meinung und sein eigenes Gerechtigkeitsverständnis mit sich bringt.

Nimm du mein Pausenbrot, dafür bekomme ich deins

Während die Philosophen der Antike schon ein differentes Verständnis von Gerechtigkeit hatten, so beschäftigen wir uns heutzutage in der Marktwirtschaft vor allem mit zwei Konzepten, die den Begriff der Gerechtigkeit beinhalten: Die Tausch- und die Verteilungsgerechtigkeit. 

Bei der Tauschgerechtigkeit geht es um den Austausch von Gaben oder Leistungen. Dazu gehören auch Mietverträge, Kauf- und Arbeitsverträge. Solch ein Austausch entsteht, wenn mehrere Personen aus freien Stücken über diesen wechselseitigen Transfer der Leistungen übereinstimmen. Leichter gesagt: Nimm du mein Pausenbrot, dafür bekomme ich deins. 

Anders ist das bei der Verteilungsgerechtigkeit. Sie beschreibt das Prinzip einer Gerechtigkeit, die der Staat gegenüber seinen Bürger:innen hat. Stark vereinfacht geht es bei diesem Konzept darum, Güter in einer sozialen Gemeinschaft gerecht zu verteilen. Die Verteilungsgerechtigkeit ist ein zentrales Element moderner Sozialstaaten und beinhaltet beispielsweise das Rentensystem oder das kommende Bürgergeld. 

Von Theorie…

Damit die Güterverteilung gerecht abläuft, gibt es zwei Direktiven: Demnach muss die Verteilung im Ergebnis gerecht sein (Ergebnisgerechtigkeit), was wiederum davon abhängt, dass die Verteilungsregeln fair sind (Regelgerechtigkeit). Dabei entstehen oft schon die ersten Konflikte, denn nicht jeder Mensch in einer Gesellschaft hat die gleichen Grundvoraussetzungen. 

„Der Philosoph John Rawls spricht in seinem fulminanten Werk ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ über die soziale Lotterie. Ungleichheiten, egal welcher Art, sind bei Rawls nur dann gerechtfertigt, wenn sie letztlich allen zugutekommt. Hauptsächlich dadurch, dass Anreize generiert werden“, erklärt Prof. Jacob Rosenthal von der Universität Konstanz. „Um soziale Ungleichheiten zu eliminieren, müsste man laut Rawls Theorie das Konzept der Familie auflösen, damit wirklich jeder die gleichen Voraussetzungen und Chancen hat. Aber so weit geht er nicht.“

… und von Geld

Oftmals beginnt es in unserer Gesellschaft beim Geld: Unterschiedliche Einkommensklassen, geringere Bezahlung von Frauen, Steuergerechtigkeit – um nur einige Paradigmen zu benennen. In der Theorie klingt das Konzept der Regelgerechtigkeit gut: Ein Gesetz ist für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen gültig. In der Praxis ist dieses demokratische Element aber nicht immer gegeben. 

Ein Beispiel: Das Gesetz gibt allen in Deutschland lebenden Menschen mit Aufenthaltsgenehmigung oder Personalausweis die gleichen Rechte auf Bildung. In der Praxis können sich nur diejenigen ein Studium in Regelstudienzeit leisten, die finanzielle Unterstützung von zu Hause bekommen. Oder um noch eine Ebene tiefer zu beginnen: alle, die die deutsche Sprache sprechen und verstehen. 

Die Verteilungsgerechtigkeit betrifft jede:n in einer Gesellschaft. Wir können direkt von ihr profitieren aber auch in einer Benachteiligungsschleife hängen. Die Stadt Konstanz investiert 25 Prozent der Gelder, die für 2023 und 2024 vorgesehen sind, in die Kinder-, Familien- und Jugendhilfe. So weit so gut. Aber in Gesundheit, Sport und Bäder wiederum fünf Prozent. Und das, nachdem unser Gesundheitssystem an die Wand gefahren ist. Ist die Werteorientierung noch stimmig, wenn andere Bereiche trotzdem sehr viel mehr Gelder zugesichert bekommen? Ist das gerecht?

„Unabhängig vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden sind wachsende Ungleichheiten in der Gesellschaft empirisch und objektiv nachweisbar – der Abstand zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer. Dies ist nicht automatisch mit ‚mehr Ungerechtigkeit‘ gleichzusetzen – doch für den sozialen Frieden ist es von großer Bedeutung, wie die Bevölkerung soziale Ungleichheiten wahrnimmt“, schreibt Johannes Piepenbrink von der Bundeszentrale für politische Bildung. 

Ein Gegenspieler zu John Rawls linksliberalen Auffassungen ist Robert Nozick, der mit seinem Hauptwerk „Anarchie, Staat, Utopia“, den Staat grundsätzlich in Frage stellt. Für Nozick stehen die Eigentumsrechte jedes Individuums im Vordergrund. Ein Staat darf nicht darüber entscheiden, wer wie viel bekommt. Vielmehr ist Güterverteilung dann gerecht, wenn die Besitzer:innen sich das Eigentum eigenständig angeeignet oder geerbt haben. 

Robert Nozick „[…] kommt zu der Schlussfolgerung, dass der Staat auf minimale Funktionen beschränkt werden solle, das heißt im Wesentlichen auf den Schutz vor Gewalt, Diebstahl und Betrug sowie auf die Durchsetzung von Verträgen,“ schreibt Prof. Dr. Matthias Mahlmann von der Universität Zürich. Rawls und Nozick gehören zu den wichtigsten Vertretern der Gerechtigkeitsphilosophie. 

Realistisches Nichtwissen?

John Rawls geht von einem „Urzustand“ von Gerechtigkeit aus. Er beschreibt diesen Zustand als Gedankenexperiment, bei dem sich jede:r in die Situation hineinversetzen kann, um so eine Vereinbarung zu treffen, die sich für alle fair anfühlt. Die Grenzen dieses „Urzustands“ liegen laut Rawls im Nichtwissen. Das heißt, dass „die Parteien keine Einzelheiten über ihre Lebenspläne, ihre Risikobereitschaft, ihre soziale Herkunft, ihre Stellung in der Gesellschaft und ihre natürlichen Gaben kennen. Ferner wissen die Parteien nicht, in welcher Zeit sie leben, also welcher Generation sie angehören,“ fassen Jan Otto und Eva-Maria Pfaff in ihrem Buch „John Rawls Verteilungsgerechtigkeit – Eine Theorie der Gerechtigkeit“ zusammen. 

In der Praxis können wir uns das so vorstellen, dass Verteilungsgerechtigkeit nur dann nicht wirkt, wenn wir gar nicht wissen, dass wir Teil von etwas sind und im 21. Jahrhundert leben. Sehr realistisch.

Nice to have

Was für den einen enorme Wichtigkeit bedeutet, ist für die andere aus dem Gemeinderat einfach ein nice to have. Aber so funktioniert Demokratie: Eine Vielzahl an Meinungen, Gesetzen und Gefühlen, versammelt in einem Raum, versucht das Bestmögliche für ihre Stadt zu entscheiden. Wie sich das ausgeht, werden wir in den nächsten zwei Jahren beobachten können. 

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