Heraus­forderung Grundschule: Keine Zeit für individuelle Bedürfnisse

Bereits Erstklässler:innen stöhnen über den hohen schulischen Druck. Lehrer:innen werden bei steigenden Schüler:innenzahlen ihren Ansprüchen an ihren Beruf kaum mehr gerecht. Und Bewegung, das Erlernen von Sozialkompetenzen sowie individuelle Förderung bleiben oft auf der Strecke.
Judith Schuck kam während ihres Studiums der Kulturwissenschaft in…

In Konstanz gibt es immer mehr Schüler:innen, die im normalen Unterricht nicht mehr mitkommen. Gerade bei den Jüngeren ist die Tendenz steigend. Ein Grund dafür ist, dass die Kinder bereits mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in die Grundschule kommen. Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen sind sich einig, dass individuelles Lernen das Lernen der Zukunft ist, denn die Gesellschaft hat sich gewandelt. Das heutige Schulsystem ist den Herausforderungen nicht mehr gewachsen.

Axinja Hachfeld. Foto: Uni Konstanz

„Bereits bei den Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass rund 30 Prozent der Kinder einen sprachlichen Förderbedarf aufweisen“, weiß Axinja Hachfeld, Juniorprofessorin für Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Heterogenität an der Universität Konstanz. Diese Unterschiede setzen sich im Verlauf der Schulzeit fort: Eine Studie ergab, dass in Baden-Württemberg 19,1 Prozent der Schüler:innen nicht den Mindeststandard im Bereich „Lesen“ erreichen. Lesen ist eine Kernkompetenz, die als Voraussetzung für andere Fächer dient. Als Reaktion auf das Ergebnis soll seit Beginn des Schuljahrs 2023/24 an allen Grundschulen in Baden-Württemberg eine Lesestrategie umgesetzt werden. Dazu zählt, dass zweimal pro Woche 20 Minuten laut gelesen wird.

Fördermöglich­keiten müssen meist privat gestemmt werden

Was das Lesen betrifft, findet Hachfeld, liege heute viel bei den Eltern, die es zuhause mit ihren Kindern üben müssten. Wenn mangelnde Zeit durch Berufstätigkeit, unzureichendes Sprachverständnis bei einer anderen Muttersprache als Deutsch oder schlicht fehlendes Interesse der Eltern bestünden, gebe es in der Schule ein Problem. Diese Kinder müssten gezielt in Kleingruppen gefördert werden. Noch schwieriger wird es, wenn Kinder eine Lese-Rechtschreibschwäche aufweisen. In diesen Fällen reicht die elterliche Expertise meist nicht aus.

„Die fehlenden Fördermöglichkeiten an den Schulen sind gravierend und das Risiko besteht, dass nur die Kinder außerschulische Unterstützung erhalten, deren Eltern sich darüber informieren und diese auch finanziell stemmen können“

so die Bildungsforscherin.

Bildungspolitisch steht Inklusion und individuelle Förderung zwar auch in Baden-Württemberg auf dem Programm, „aber es wird noch zu wenig umgesetzt.“ Eine weitere Ursache für eine Leseschwäche sieht sie in der hohen Verfügbarkeit digitaler Medien.

Wandmalerei an der Säntisschule. Foto: Judith Schuck

Die Mutter eines Erstklässlers an einer Grundschule in Konstanz, die zum Schutz ihres Kindes namentlich nicht genannt werden möchte, sagt: Ihr Sohn komme grundsätzlich im Unterricht mit, kämpfe aber täglich mit der Masse an Hausaufgaben. Sie würde gerne jeden Tag eine halbe Stunde mit ihm Lesen üben. Doch dazu fehlt am Ende eines langen Lerntages die Energie. „Beim Elternabend hatten wir besprochen, dass nicht mehr als 30 Minuten für die Hausaufgaben aufgewendet werden sollten, und wenn mehr benötigt wird, sollte es wann anders nachgeholt werden“, sagt sie. Aber dadurch werde der Berg immer größer. Realität sei, dass ihr Sohn, der vor der Einschulung jeden Tag auf dem Sportplatz war und viel Bewegung an der frischen Luft hatte, oft anderthalb Stunden und mehr für die Aufgaben bräuchte, weil ihn schon allein die pure Menge überwältige und er immer wieder motiviert werden und Pausen einlegen müsse. „Da bleibt die Bewegung auf der Strecke.“ Neulich habe er einfach geweint.

„Das hat mir so wehgetan. Eigentlich möchte ich für meine Kinder Vertrauensperson und Anlaufstelle sein. Jetzt muss ich ständig kontrollieren, ob er mir die Wahrheit sagt, wenn es um die Hausaufgaben geht.“

Mutter eines Konstanzer Erstklässlers

Ihm fehle zudem die Interaktion mit anderen Kindern, sagt die Mutter. „Das macht etwas mit der Psyche und der Persönlichkeit.“

Umgang mit Frustration lernen ist wichtig

Johannes Schmidt ist Schulleiter an der Säntisschule in Konstanz. Die private Einrichtung ist ein  sonderpädagogisches Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, in der sowohl im Stammhaus in der Säntisstraße unterrichtet wird als auch in Kooperation mit inklusiv ausgerichteten Außenklassen an Konstanzer Schulen. Hierzu zählt zum Beispiel die Haidelmooschule. 

Johannes Schmidt leitet die Säntisschule und beoabchtet, dass immer mehr Kinder unter hohem Druck leiden. Foto: Judith Schuck

Trotz steigender Schüler:innenzahlen ist weniger los auf Spiel- und Bolzplätzen. Neben steigendem Medienkonsum, der Auslöser für Lernschwächen, aber auch für mangelnde soziale und emotionale Fähigkeiten sei, sieht der Schulleiter das Problem noch darin verankert, dass die Tage der Kinder mit Vereinen und Hobbys heute zu stark durchstrukturiert seien.

„Dabei brauchen Kinder Raum, um sich auszuprobieren. Wir schauen zu wenig auf die Bedürfnisse der Kinder.“

Johannes Schmidt

Im Bemühen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, bleibe außerdem vieles auf der Strecke. Zeitdruck führe häufig dazu, dass Eltern ihren Kindern zu viel abnähmen. „Es gibt Kinder, die sich im Grundschulalter noch nicht alleine anziehen können“, sagt Schmidt. Kinder bräuchten Herausforderungen und Zeit zum Üben. Dadurch steige die Frustrationstoleranz. Wer nicht gelernt habe, am Ball zu bleiben, wenn etwas nicht auf Anhieb klappe, bleibe unselbständig.

Früher Leistungsdruck führt zu Auffälligkeiten

Er beobachtet, dass es vielen Kindern schwerfalle, sich in Gruppen zu integrieren. Bei beidem spielt der Medienkonsum eine zentrale Rolle. Schmidt betont, dass die Schüler:innenzahlen am Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) in den vergangenen Jahren noch mal stark angestiegen sind. Corona habe die Situation zwar noch verschärft, sei aber nicht der Auslöser. Die Kinder und Jugendlichen, die am SBBZ unterrichtet werden, kommen dabei aus allen Gesellschaftsschichten. Verhaltensauffälligkeiten nähmen ganz allgemein zu.

„Die Kinder sind Symptomträger. Sie zeigen uns, dass irgendetwas nicht mehr passt.“

Johannes Schmidt

Schmidt nimmt hier den hohen Leistungsdruck in die Verantwortung: „Wir müssen immer wieder versuchen, den Kindern Zeit zu geben.“ Er ziehe hier auch seinen Hut vor vielen Kolleg:innen an den Konstanzer Grundschulen, die tagtäglich mit diesem Auseinanderklaffen von Grundfertigkeiten und individuellen Fähigkeiten umgehen müssten. Neben den bisher genannten Schwierigkeiten kämen noch die Herausforderungen mit Schüler:innen hinzu, die aus Krisengebieten zu uns geflohen seien und neben sprachlichen Hürden auch mit Traumata zu kämpfen hätten.

Seine Ausführungen bestätigt eine Grundschullehrerin an einer Konstanzer Grundschule, die aus beruflichen Gründen anonym bleiben möchte: „Wie soll ich alleine bei einer Klasse von 24 Erstklässler:innen sehen, ob jeder richtig schreibt?“, dies sei schlicht unmöglich. Dann gebe es noch die großen Unterschiede bei den Fähigkeiten der Kinder und die Geflüchteten, die in den Unterricht integriert werden sollten. „Es wird zu wenig Geld ins Bildungssystem investiert bei gleichzeitig zunehmenden Aufgaben, die die Lehrkräfte zu stemmen haben“, sagt die Lehrerin. Sie versuche, ihre Aufgabe aber so gut sie könne, anzugehen. Axinja Hachfeld ist überzeugt, dass es den Kindern helfen könnte, wenn die Lehrer:innen genauer hinschauen würden, wie das jeweilige Kind arbeitet: „Wo steht das Kind?“ Seine Leistungen sollten nicht nur via Klassenarbeiten bewertet werden. Hier müsse die Bildungspolitik Ressourcen schaffen und Lehrpersonen müssten grundsätzlich ihre Haltung überdenken. „Oft können schon einfache Änderungen von Verhaltensweisen beim Kind viel bewirken“, so Hachfeld.

Johannes Schmidt glaubt, dass es der Situation helfen würde, wenn die Schulen mehr mitbestimmen und gestalten könnten: „Sie sollten zusätzliche Kompetenzen erhalten.“ An seiner Schule gibt es beispielsweise keine Pausenglocke mehr, denn die Kinder hätten ganz unterschiedliche Konzentrationsspannen. Ohne die allzu starre Unterrichtszeit können die Lehrer:innen der individuellen Aufmerksamkeit ihrer Schüler:innen gerecht werden.