Wenn wir Menschen darüber nachdenken, ab wann wir erstmals wirklich Menschen waren, dann offenbart sich eine Vielzahl an Theorien. Die einen sagen, es waren jene Tage, in denen es einer Gruppe von Frühmenschen gelang, einen der ihren, der sich das Becken gebrochen und damit ein unwiederbringliches Todesurteil der Natur unterzeichnet hatte, wieder gesund zu pflegen. Lange ging man davon aus, dass es die Beherrschung des Feuers war, die den Menschen aus der Reihe der Tiere hob – ein Narrativ, das besonders eindrücklich in Rudyard Kiplings „Das Dschungelbuch“ hinterlegt ist. Anderen Theoriesträngen zufolge war es die Fähigkeit zum komplexen Waffen- und Werkzeugbau, die uns final zu Menschen machte.
Aber es gibt auch die prägnante Theorie, dass es die Kunst war, die uns Menschen entscheidend und final formte. Die den Unterschied machte. Die Fähigkeit, eine zweite Realität in Form von Geschichten zu erschaffen. Zu erzählen. Zu lügen. Der Antrieb, Erlebtes und Vorgestelltes in Zeichnungen und Figuren festzuhalten. Höhlenmalereien. Visuelle Tagebücher. Kunst, das ist klar, ist für das Überleben nicht notwendig. Sie ist eine Art Luxusgut. Tiere schaffen keine Kunst. Sie findet in ihrem Bewusstsein keinen Platz. Zu stark wirken die Instinkte, die vor allem eine Aufgabe haben: überleben. So effektiv wie möglich. Dem Menschen, dessen Intelligenz in evolutionärer Höchstgeschwindigkeit aus dem Ruder lief, ermöglichte eine eigentümliche Form von Gemeinschaft und Gesellschaft aber, sich um solchen Luxus zu kümmern. Die Kultur wurde zu seiner Natur.
Am Anfang war die Kunst
Der allererste Anfang des genuin menschlichen Handelns könnte also ein künstlerischer gewesen sein und mit diesem gedanklichen Unterbau im Blick macht es doch doppelt Sinn, einen Text über Anfänge in der Kunst genauso zu beginnen: Am Anfang war die Kunst. Die nächsten gedanklichen Schritte gestalten sich schon schwieriger. Normalerweise hilft die Suchmaschine auf der Spurensuche nach Zitaten und Verweisen, aber alle Stichwortkombinationen, die Buzzwords wie „Kunst“ und „Anfangen“ oder die entsprechenden Synonyme enthalten, spucken vor allem verschlungene Wandtattoos mit motivierenden Zitaten aus: „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ – Winston Churchill. Ob Churchill das wirklich so gesagt hat, lässt sich sicher bezweifeln, spielt aber für diesen Text auch keine Rolle. Fest steht aber, dass die im Zitat verhandelte Kunst nichts mit der Kunst zu tun hat, der wir uns in diesem Text widmen. Oder vielleicht doch?
These: Der allerentscheidendste Antrieb der Kunst ist die unvergleichliche Spannung zwischen Ende und Anfang. Hier, an diesem Nullpunkt, diesem vibrierenden Dazwischen, kommt alles zusammen. Alle Emotionen. Alle Ängste. Alle Hoffnungen. Das schöpferische Moment. Genau hier, wo der von einem patriarchalen Kunstdiskurs geprägte Geniebegriff in seine Einzelteile zerfällt. Denn das Genie, das Dinge aus sich heraus in das flehende Nichts hinein entwickelt, das gibt es nicht. Das ist ein Mythos, nichts als bloße Selbstinszenierung. Kein:e Künstler:in kann autark erschaffen. Wir alle befinden uns in einem undurchdringlichen Netz aus Verweisen, mit dicken Strängen aus Geschichte, die sich ständig wiederholt in seltsamen Schleifen. Das lässt sich nicht ausblenden, unmöglich. Und doch umweht jeden neu gestarteten Schaffensprozess die unerschütterliche Energie des Neuanfangs, eine frische, ja vitale Brise, die süchtig macht.
Der schwere erste Schritt
Die Aufgabe der Künstler:innen ist das stetige Verknoten von offenen Enden und, ja, noch viel wichtiger, das Aufschneiden des Netzes, das Herausnehmen von einzelnen Sequenzen, das Verpflanzen und Neuanordnen. Nur so können althergebrachte Strukturen und verkantete Ideen-Konstrukte hinterfragt werden, nur so kann Kunst eine wirkliche gesellschaftliche Relevanz einnehmen. Aufbauen. Einreißen. Und wieder von vorne. EinstürzENDE NEUbauten.
Aber ja, genau dieser Moment kann hemmen. Es ist die reale Angst vor dem weißen Papier, das dich anstarrt, so blütenrein. So unbefleckt. So fehlerlos. Allumfassende Verstrickung, und doch das Nichts im Angesicht. Und wer wäre denn ich, wenn ich dieses Weiß durchbrechen würde? Der erste Schritt ist immer der schwerste, auch wenn das eine Phrasenschwein-Weisheit ist. Denn Kunst definiert sich vor allem durch Möglichkeiten. Durch das Versprechen, dass es eigentlich keine Grenzen gibt. Keine Physik. Und eigentlich auch keine Moral. Aber wenn eben alles möglich ist, dann ist auch nichts möglich. Und dieses Nichts ist ungeheuer gefräßig, weil es dich anstarrt aus den Fasern des Papiers.
Wiedererkennungswert statt Raum für Neues?
Achtung, kurzer Gedankensprung: Eine Sache ärgert mich vor allem mit Blick auf den Kunstmarkt. Die gesamte Industrie mit all ihren Strukturen, die bis in die Hochschule reichen, haben eine Maschinerie erschaffen, die die Künstler:innen davon abhalten, neu zu beginnen. Der ideale Künstler:innen-Typus wird dazu angehalten, eine Bildsprache mit ultimativem Wiedererkennungswert zu erschaffen. Jedes Werk soll diesen Künstler:innen konsequent zugeordnet werden können, um den potentiellen Verkaufswert zu steigern. Und klar, rein wirtschaftlich macht es Sinn, visuelle Marken zu etablieren. Dadurch hält sich der Markt jedoch abertausende Künstler:innen in sich stetig wiederholenden Loop-Hamsterrädern, in denen kaum Raum für Neues bleibt. Der:die prototypische Verkaufskünstler:in (er)findet überspitzt gesagt das eine Bild, das sich verkauft, und malt es dann immer wieder. Der Thurgauer Künstler Daniel Gallmann setzt sich mit genau diesem Komplex auseinander und malt seit 1983 jeden Tag dasselbe Motiv als widerständigen Akt.
Welchen Einfluss aber haben die äußeren Umstände auf Neuanfänge? Blicken wir etwa in die deutsche Geschichte, so erlebten Kunst und Literatur in der Weimarer Republik eine Vielzahl an aufregenden Neuanfängen. Hier entwickelte sich nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs eine aufschäumende Hochzeit, ein vitales Vordenken und rauschendes Ausprobieren, manifestiert in DADA und Avantgarde, Atonalität und echten Schlager als Vorgänger des Pop, in den Texten von Robert Musil, Hermann Hesse und Thomas Mann (und unzähligen anderen), ausgeleuchtet durch den Aufstieg des Kinos, vollzogen durch Marlene Dietrich und Fritz Lang. All diese Bewegungen aber schluckte das barbarische Regime der Nationalsozialisten, brandmarkte sie als entartet, ganze Generationen von Künstler:innen wurden über Jahrzehnte hinweg mundtot gemacht. Vertrieben. Verboten. Ermordet.
Offene Wunden
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die kreative Explosion aus. Klar, da waren die Trümmertexte, die direkt reagierten. Aber insgesamt überwog der Schock. Der Schrecken. Und Theodor Adornos Zitat, wie ein Mahnmal: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Selbst der Neuanfang und die Avantgarde hatten in der größtmöglichen Katastrophe des Weltenbrands ihre Unschuld verloren. Und hier zeigt sich: Auch der Radierer hat seine Grenzen, hinterlässt unschöne Spuren und Verschmierungen. Die 1950er-Jahre in Deutschland waren in Sachen Kunst und Kultur harmlos, überstrichen von Kitsch, eine Art watteweiches Wundpflaster, welches sich dann unter dem Einfluss der ersten amerikanischen Popkultur-Wellen langsam, aber sicher zersetzte.
Kunst darf niemals ausschließen!
Der Blick in die Mediengeschichte zeigt vor allem eines: Ein Medium oder auch ein Genre wird immer dann spannend, wenn sich die Exklusion zur Explosion transformiert. Soll heißen: Erst wenn ein Medium für alle zugänglich ist, kann es sein volles Potential ausschöpfen. Deshalb funktionierten Punk (drei Akkorde und ab geht’s), Hiphop (notfalls über Playstation-Beats rappen) und Techno (der schon früh durch Freeware-Software einsteigerfreundliche Zustiege ermöglichte) wie Brandbeschleuniger! Ein Medium, das Menschen ausschließt, die sich das entsprechende Beginner-Werkzeug nicht leisten können, ist es eigentlich nicht wert, darüber zu sprechen. Kunst darf niemals exkludieren!
Deshalb bleibt an dieser Stelle nur ein finaler Aufruf: Fangen Sie an. Jetzt! Malen. Schreiben. Filmen. Musik machen. Es geht. Alles ist da. Es braucht keinen esoterischen Selbstfindungstrip zur Inspiration. Ihr Handy ist eine Kreativmaschine, voller Tools zum Zeichnen, Komponieren, Filmen, Schneiden und Entwickeln. Und wenn Sie nicht ständig auf Displays starren wollen, dann reicht auch ein Blatt Papier. Aber seien Sie sich bewusst: Das Papier grinst zurück.
Du willst mehr karla?
Werde jetzt Mitglied auf Steady und gestalte mit uns neuen Lokaljournalismus für Konstanz.
Oder unterstütze uns mit einer Spende über Paypal.