Fachärzt:innen­mangel in Konstanz: Kein Ende in Sicht

Lange auf einen Termin warten oder gar nicht erst einen bekommen: Das ist in Frauen-, Kinder- und Hautarztpraxen eher die Regel als die Ausnahme. Trotzdem sieht die Kassenärztliche Vereinigung den Bedarf für diese Fachpraxen im Landkreis mehr als gedeckt. Wie kann das sein?
Linda ist Urkonstanzerin und hat nach zehn Jahren Großstadtgeflüster in…

Aya ist mit ihrem Mann von Ägypten nach Konstanz gezogen und im dritten Monat schwanger. Weil es ihr gesundheitlich nicht gut geht und sie die Sprache noch nicht spricht, geht ihr Mann Ihab seit einigen Tagen von Praxis zu Praxis. Ohne Erfolg. Obwohl Aya schwanger ist, bekommt sie in keiner der Frauenarztpraxen, die sie in Konstanz anfragen, einen Termin. „Wir nehmen keine neuen Patientinnen mehr auf“, hört er jedes Mal. Recht unwirsch wird Ihab an den Rezeptionen abgewiesen, auch weil die Sprechstundenhilfen keine Geduld für ihn haben. Er spricht etwas langsamer und noch nicht so deutlich. Aya und Ihab gehen deshalb ins Konstanzer Klinikum, um nachzuprüfen, ob mit ihrem Baby alles in Ordnung ist. 

Dieses Szenario ist in Konstanzer Ärzt:innenpraxen keine Seltenheit. Student:innen, die nach Konstanz ziehen, gehen jahrelang nicht zur jährlichen Vorsorgeuntersuchung oder müssen einen Termin in ihrem Heimatort vereinbaren. Eltern weichen auf die Pädiatrie am Klinikum aus und wer keine Internetverbindung hat, hat bei der Terminvereinbarung bei den Hautärzt:innen schlechte Karten. In einigen Praxen sind die Telefonleitungen entweder durchgehend besetzt oder es kommt direkt eine Ansage. Beispielsweise in der Hautarztpraxis am Augustinerplatz: Wer einen Termin für einen Hautscan möchte, kann sich immer am ersten Mittwoch im Monat ab 8 Uhr einfinden, um einen Termin in frühestens drei Monaten zu bekommen. 

61 Tage Bürokratie

Dr. Gábor Haraszti. Foto: privat

Die Situation ist nicht nur für (suchende) Patient:innen belastend. Auch Ärzt:innen kommen an ihre Grenzen. „Wenn ich nach Hause komme, hört meine Arbeit nicht auf. Dann kommen Bilder von meinen Freunden oder meiner Familie, die dermatologische Beratung suchen“, sagt Dr. Gábor Haraszti, der seine Praxis in der Rosgartenstraße hat. Trotz der hohen Belastung ist Haraszti nicht unzufrieden: „Für mich ist das Einfachste, Patienten zu untersuchen und zu therapieren. Ich mag meine Arbeit sehr gerne, mein Wartezimmer ist voll.“

Was ihn viel Zeit koste, seien administrative Prozesse, wie zum Beispiel das Krebsregister zu führen, die Post zu bearbeiten oder die Steuererklärung in der Freizeit zu machen. Der Bürokratieindex der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigt, dass in den Arztpraxen 2020 rund 61 Arbeitstage pro Jahr für Bürokratie verwendet werden mussten. Das entspricht bei 251 Werktagen rund 24 Prozent der Arbeitszeit. „Man sagt eigentlich, dass zu einer Stunde Behandlung eine halbe Stunde Nachbereitung anfällt“, erklärt Dr. Lynn Ganter, Gynäkologin in der Kanzleistraße.

Bedarfs­planung, die den Mangel nicht deckelt

Laut Statista war jede:r Deutsche im Jahr 2020 ungefähr zehnmal beim Arzt. Die Häufigkeit der Arztbesuche hat sich damit seit 1991 nahezu verdoppelt. Und dem angepasst auch die Ärzt:innendichte. Die allgemeine Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung wird alle zwei Jahre anhand der Verhältniszahl „Einwohnerzahl pro Arzt“, Morbiditätsfaktor und regionale Morbiditätsstruktur, also die Häufigkeit von Erkrankungen innerhalb einer Bevölkerungsgruppe, berechnet und angepasst. Die Zahlen für Baden-Württemberg werden zusätzlich dreimal im Jahr aktualisiert.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) ist dafür zuständig, flächendeckend die ambulante ärztliche und psychotherapeutische Versorgung zu organisieren. Sie teilt außerdem die Vergütung, die von den Krankenkassen direkt an die KV bezahlt werden, auf die Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen auf.

Grafik: Jehona Miftari

Laut der Bedarfsplanung vom Juni 2023, die karla vorliegt, liegt der Versorgungsgrad von Hautärzt:innen im Landkreis Konstanz bei 154,1 Prozent, von Frauenärzt:innen bei 121,4 Prozent und von Kinderärzt:innen bei 131,2 Prozent. Real bedeutet das: Im Landkreis gibt es neun Hautärzt:innen, 24 Frauenärzt:innen und elf Kinderarztpraxen (Stand 1. Juli 2023). 

„Die Bedarfsplanung wurde in den 1990er Jahren eingeführt, damals gab es eine Ärzteschwemme. Damit sollten die Zahl der niedergelassenen Ärzte sowie die Kosten im Gesundheitswesen begrenzt beziehungsweise eingedämmt werden“, sagt Gabriele Kiunke-Schwarz von der Kassenärztlichen Vereinigung. Dieses Regelwerk sage nichts darüber aus, wie die medizinische Versorgung vor Ort wahrgenommen werde. Auch bei einer 100-prozentigen Versorgung könne es sein, dass Patient:innen keinen Arzttermin bekommen und die Wartezimmer voll seien. Warum das Regelwerk nicht die reale Wahrnehmung abdeckt, beantwortet die KVBW so: „Als KVBW liegt es aber nicht in unseren Händen, diese Regelwerk zu verändern oder gar abzuschaffen, das ist Sache des Gesetzgebers“, so Kiunke-Schwarz. Das eingeführte Regelwerk aus den 90ern mag inzwischen etwas verstaubt sein, denn der Fachärzt:innenmangel ist nicht nur in Konstanz ein Problem.

„Ob die Bedarfsplanung angesichts des Ärztemangels noch zeitgemäß ist, ist eine berechtigte Frage. Aber selbst wenn die Begrenzung aufgehoben würde und sich überall unbegrenzt Ärzte niederlassen könnten, wäre die Mangelsituation in der ambulanten Versorgung vermutlich nicht gelöst. Eines der Hauptprobleme ist, dass es zu wenig nachrückende Ärztinnen und Ärzte gibt.“

Gabriele Kiunke-Schwarz, Kassenärztliche Vereinigung

Das Planungs­gebiet ist gesperrt

Dr. Barbara Kmoth hat vor sechs Jahren die Kinderarztpraxis in der Mainaustraße übernommen. In ihrer Praxis wird kein Kind abgewiesen. Vor allem akute Fälle werden in das Alltagsgeschäft eingeschoben. Im Schnitt kommen zehn bis 15 besorgte Eltern täglich mit ihren Kindern bei akuten Beschwerden in die Praxis, die keinen regulären Termin haben. „Manche Eltern kommen aber mit ihren fiebernden Kindern ohne vorher anzurufen in der Zeit in der wir bei infektfreien Kindern Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen machen. Wir würden gerne gesunde von akut kranken Kindern trennen“, sagt Barbara Kmoth. Dass es in den vergangenen 30 Jahren keine Veränderung in der kinderärztlichen Versorgung gab, ist für sie erstaunlich. „Es wundert mich schon sehr, dass in den vergangenen 30 Jahren trotz Bevölkerungswachstum keine neue Kinderarztpraxis in Konstanz genehmigt worden ist. Die Berechnungen der KV können nicht stimmen.“ Die Kassenärztliche Vereinigung erklärt den Sachverhalt auf Anfrage so:

„Das liegt schlicht daran, dass das Planungsgebiet für die Niederlassung von Kinderärzten seit Jahren gesperrt ist.“ 

Kassenärztliche Vereinigung

Die Geburtenrate in Konstanz hat in den vergangenen 20 Jahren zugenommen. Nicht drastisch, aber dennoch ist sie stetig gestiegen. Trotzdem ist die Niederlassung für neue Kinderärzt:innen gesperrt. „Die Notfallpraxis wurde vor einigen Jahren nach Singen verlegt. Die Versorgung für Konstanzer:innen ist dadurch deutlich erschwert worden. Eltern gehen unter Umständen dann auch ins Klinikum“, sagt Normen Küttner, der sich bei der Freien Grünen Liste engagiert und als Notfallsanitäter im Rettungsdienst arbeitet.

„Alle Konstanzer Kinderarztpraxen sind stark ausgelastet und haben für ungeplante Vorstellungen oft lange Wartezeiten. In den Randstunden kommen manche Eltern auch direkt in die Kinderklinik. Dazu kommt, dass es im Landkreis Konstanz und Bodenseekreis einige Kinderarztpraxen gibt, die fachärztliche Unterstützung suchen.“

Peter Meißner, Chefarzt der Kinderheilkunde (Pädiatrie) am Klinikum Konstanz

Die Gynäkologin Dr. Ganter erklärt sich die Sperrung des Planungsgebietes so: „Formell sind wir zwar überversorgt, aber man darf einfach nicht mehr nur die Einwohnerzahl anschauen. Es gibt im Landkreis zwei Praxen mit Kassensitz, die wichtige Spezialqualifikationen wie Pränataldiagnostik, Zytologie und Kinderwunsch übernehmen. Damit fallen aber beispielsweise normale Vorsorgen und Verhütungsgespräche in diesen Praxen weg.“ Viele Student:innen geben Konstanz nur als Zweitwohnsitz an und fallen damit aus der Einwohnerstatistik heraus. Außerdem dürfe man auch nicht vergessen, dass einige in der Schweiz wohnen, aber in Deutschland zum Arzt gehen. „Wir betreuen auch viele Frauen aus der Ukraine, die hier wohnen.“ Damit bestätigt sich die Annahme von Barbara Kmoth, die glaubt, dass die Zahlen nicht stimmen. Da all diese Faktoren nicht in die Berechnung „Einwohnerzahl pro Arzt“ der KVBW eingerechnet werden, kann die Bedarfsplanung nicht aufgehen. 

Im Kontext der Kassensitze und angebotenen Leistungen stellt sich also die Frage: Welche Anforderungen müssen von ärztlicher Seite erfüllt sein, um einen Kassensitz zu bekommen? Nur mit einer Kassenzulassung dürfen Ärzt:innen ihre Leistungen mit der KV und die wiederum mit der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen. „Mit der vertragsärztlichen Tätigkeit als niedergelassener Arzt verpflichtet sich dieser, mindestens 25 Stunden wöchentlich in Form von Sprechstunden für gesetzlich Versicherte anzubieten. Ein Kassenarzt kann zudem sich bestimmte Schwerpunkte setzen, z.B. in Pränataldiagnostik“, sagt Kiunke-Schwarz. Im Fall der Praxis von Dr. Nauth der Pränataldiagnostik, Zythologie und Laboruntersuchungen anbietet, fällt diese Regel aus. 

Die Kommunale Gesundheits­konferenz

In der Politik scheint das Thema immer wieder Fahrt aufzunehmen, um sich dann im Sand zu verlaufen. Andreas Hoffmann (CDU) hat sich als Landtagsabgeordneter zehn Jahre lang für die Fachärzt:innenversorgung eingesetzt und tut das seit 2011 im Kreisrat. Inzwischen gibt es eine Arbeitsgruppe „Ärztliche Versorgung“ der kommunalen Gesundheitskonferenz. Deren Ziele formuliert die Arbeitsgruppe so: Sie wollen Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung stärken, sektorenübergreifende Vernetzungsstrukturen aufbauen, zielgruppen- und bedarfsorientierte Angebote für eine verbesserte Versorgung sicherstellen und das regionale Gesundheitswesen weiterentwickeln. 

Wie geht das voran? Die kommunale Gesundheitskonferenz (KGK) trage dazu bei, die Entstehung chronischer Erkrankungen zu vermeiden oder hinauszuzögern und die Gesundheit in allen Lebensphasen und Lebenswelten zu fördern. Die Erreichung der genannten Ziele ist ein kontinuierlicher Prozess. Die Zusammenarbeit mit der KVBW beschreibt Katja Ebel der KGK als konstruktiv, geht aber nicht näher auf die Frage der Unterversorgung bei formeller Überversorgung ein. Normen Küttner sieht auch außerhalb der Gesundheitskonferenz politischen Handlungsbedarf.

„Man macht in seinem Umfeld ja auch die Erfahrung, wie schwierig es ist, einen Termin zu kriegen. Viele Praxen schließen im Landkreis, egal welche Fachrichtung, da gibt es auch Handlungsbedarf. Die Vermittlungszentren der KVBW können nicht die dauerhafte Lösung sein.“

Wenn man sich die Bedarfsplanung der KVBW ansehe, sei in Konstanz alles rot und gesperrt. „Ich wundere mich dann schon, dass gesagt wird, dass es berechnet wurde und schon so passt,“ sagt er. Alles rot, das bedeutet, dass im Landkreis Konstanz der Versorgungsgrad bei den Fachärzt:innen ausnahmslos bei über 100 Prozent liegt.

Nachfolge gestaltet sich schwierig

Ein weiteres Problem, das zum Fachärzt:innenmangel beiträgt, ist, dass es zunehmend schwierig ist, Nachfolger:innen für Praxen zu finden. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen schrecken viele junge Ärzt:innen vor dem bürokratischen Aufwand und der Verantwortung zurück, die eine eigene Praxis mit sich bringt. Auch in der Medizin wird die Nachfrage nach Teilzeitmodellen größer, die bei einer Praxisübernahme erst mal schwierig zu gestalten ist. „Die Medizinstudienplätze müssten massiv ausgebaut werden, das würde jedoch nur langfristig weiterhelfen, denn die Ausbildung zum Facharzt dauert zwölf Jahre,“ ergänzt Kiunke-Schwarz. Es gebe einen massiven Mangel an jungen Ärzt:innen. Die Quoten zeigen auch, dass heutzutage mehr Frauen Medizin studieren, diese aber gegebenenfalls durch Familienplanung dann zeitweise ausfallen.

Normen Küttner glaubt: „Es geht für viele junge Ärztinnen und Ärzte, wie in anderen Berufen auch, mehr und mehr um die Work-Life- Balance. Das ist ein viel strapazierter Begriff, aber es ist aus meiner Sicht auch eine Generationengeschichte. Es ist nicht mehr so spannend, mit einer eigenen Praxis ins finanzielle und wirtschaftliche Risiko zu gehen und über die Maßen Zeit zu investieren. Neue Modelle wie Praxisgemeinschaften, Ärztezentren scheinen attraktiver zu sein.“ Susanne Heiss der Freien Wähler beschäftigt sich auch mit dem Thema. Sie sagt:

„Längerfristig ist es doch zielführender, ein medizinisches Versorgungsnetz zu kreieren, bei dem jemand auch in Teilzeit arbeiten kann. Die KVBW hat über Jahrzehnte nicht gesehen, was da auf die Bevölkerung zukommt. Es gibt in Konstanz jetzt Praxen, die nicht mehr bedient werden.“

Susanne Heiss

Die KVBW versucht dem entgegenzuwirken, indem sie Niederlassungen fördert. Dazu gehört ein finanzielles Förderprogramm für Praxisgründer:innen. Zudem gibt es einen Beratungsservice, der Fragen zu Praxisausstattung, Technik, IT und Organisation beantwortet.

Neues Gesundheits­zentrum am Schänzle

Neben der Erweiterung der Sportstätte am Schänzle ist auch ein neues Gesundheitszentrum in Planung. Dieses Zentrum wird zwar neue Fachrichtungen nach Konstanz bringen, beispielsweise die Rheumatologie. Durch die Deckelung der KVBW können hier aber keine neuen Frauen-, Kinder- oder Hautarztpraxen öffnen. Bei den Arztpraxen soll es sich vielmehr um eine Verlagerung von bestehenden Praxen handeln als um neue Angebote. Das sagt Frank Hoffmann, der bei der FDP aktiv und selbst niedergelassener Arzt ist.

Im Gemeinderatsbeschluss heißt es zum Gesundheitszentrum, dass die Zusammenführung von mehreren Disziplinen dazu beitragen soll, die örtlich ambulante Gesundheitsversorgung nachhaltig zu sichern. Sie schreiben weiter, dass damit auch dem Trend entgegengewirkt werden kann, dass es immer weniger niedergelassene Haus- und Fachärzt:innen gibt. Nach karlas Recherchen dürfte dies aber nicht so einfach umzusetzen sein, wie die aktuelle Bedarfsplanung und deren Deckelung zeigt. Zumindest wenn es um gesetzlich Versicherte geht, kann das neue Ärzt:innenzentrum zum jetzigen Stand keine riesigen Sprünge in eine bessere Versorgung unternehmen.

Da Aya und Ihab in Konstanz keine Betreuung für die Schwangerschaft finden, gehen sie für diese Zeit nach Ägypten zurück. Zweimal bekommen sie einen Termin in einer Praxis in Radolfzell, aber auch das geht nicht regelmäßig. Ihr Sohn Adam kommt schließlich in einer Klinik am Tegernsee zur Welt. „Wir sind in die Nähe von München gezogen, weil ich dort einen Job gefunden habe. Hier war es gar kein Problem, einen Termin bei einem Frauen- oder Kinderarzt zu bekommen“, erzählt Ihab. Dort scheint die Bedarfsplanung aufzugehen.

Wünschenswert wäre, das überholte Regelwerk der Kassenärztlichen Vereinigung zu erneuern und die Berechnung der Einwohnerzahl pro Arzt an das tatsächliche Bevölkerungsbild anzugleichen. Dann würden einige Gruppen nicht mehr aus dem Raster fallen und die Bedarfsplanung wäre realistischer.